Jahresbericht des Abasto-Horts.
Wir freuen uns über den Jahresbericht von Elisabeth Gavilán, der Leiterin des Abasto-Horts in Paraguay, den der Lemonaid & ChariTea e.V. seit zwei Jahren unterstützt. Allen Freunden der ausführlichen Lektüre und denjenigen, die sich schon immer gefragt haben, was genau den Hort zu einem so besonderen Ort macht, wünschen wir viel Spaß beim Lesen!
“Geschichte und aktueller Stand des Projekts
Das Projekt wurde im Jahr 2004 als Initiative von einer jungen Frau ins Leben gerufen, die beobachtet hatte, dass vielen Kindern in der Grossmarktzone eine “Anlaufstelle” guttun würde, wo sie in Ruhe ihre Hausaufgaben machen und dabei betreut würden, einen Imbiss bekämen und Zeit und Raum fürs Spielen hätten. Es handelt sich um Kinder, deren Familien von Arbeitsmöglichkeiten im Grossmarkt abhängen, sei es als offiziell angestellte Arbeiter und Angestellte oder in informellen Jobs wie dem Anbieten von Speisen und Getränken auf den Marktstrassen. Die Erwachsenen haben selten eine abgeschlossene Schulbildung, noch seltener einen Beruf. Einige der Kinder müssen ihren Eltern helfen und im Grossmarkt selbst mitarbeiten beim Aussortieren von noch brauchbarem Obst und Gemüse 2. Wahl oder von reciclierbarem Material wie Plastik, Papier und hölzernen Obstkisten. Bei den Familien handelt es sich meist um Alleinerziehende – meistens Mütter mit mehreren Kindern – oder aber um Restfamilien wie Grosseltern oder Tanten und Onkel mit Enkeln bzw. Nichten und Neffen. Die abwesenden Eltern arbeiten im benachbarten Argentinien oder aber in Spanien oder den USA.
Die Initiative konnte dank der Unterstützung durch zwei deutsche Vereine – die ProParaguay-Initiative e.V. (PPI) in Kempen am Niederrhein und das Kindermissionswerk “Die Sternsinger” in Aachen – zu einem Projekt mit festem Jahresbudget werden. Davon werden 80% von PPI (dem bedeutende Jahresspenden von deutschen Freunden des Projekts zufliessen) und 20% vom Kindermissionswerk getragen. Ab 2008 wird das Projekt durch die Stiftung Vida Plena (mit Sitz in Fernando de la Mora, einer Nachbarstadt Asuncións) geleitet und verwaltet.
Im vergangenen Jahr 2012 konnte dank dreier Sonderspenden die Betreuung der Kinder und Jugendlichen im Hort wesentlich verbessert werden.
Der lang gehegte Traum vom Oberstock in der fürs Projekt gemieteten Lagerhalle wurde dank einem Fond von PPI erfüllt: jetzt verfügt das Projekt über einen 2. Stock mit Bibliothek als Studienraum für die Jugendlichen, einen Büroraum für Leitung und Erzieher sowie einen Lagerraum.
Mit Hilfe der Deutschen Botschaft Asunción konnten neue Möbel für das untere und obere Stockwerk angeschafft werden.
Büro und Bibliothek konnten mithilfe des Kindermissionswerkes mit Informatik-Geräten und Zubehör ausgestattet werden.
Die Aufgabenverteilung unter dem Erzieherpersonal musste neu organisiert werden. Wie jedes Jahr wurde in wöchentlichen Sitzungen der Ablauf der Arbeit evaluiert, wurden Lösungen für Schwierigkeiten gesucht, evt. nach Befragung der betroffenen Kinder u. Jugendlichen. Die fortlaufende Weiterbildung des Personals ist ebenso wichtig wie planerische und organisatorische sowie verwaltungstechnische Aufgaben.
Personal
Das pädagogische Team bestand 2012 und besteht aktuell aus vier festangestellten Personen im Alter zwischen 21 und 40 Jahren, zwei Frauen und zwei Männern. Davon haben zwei eine Vorbildung für ihre Erzieheraufgabe mitgebracht. Dazu kommen die Projektleiterin (Deutsche, beruflicher Hintergrund: Gymnasiallehrerin (Sek.II) mit deutscher Ausbildung und 23 Jahren Schuldienst, danach Weiterbildung für und Betreuung von Kindern in den frühen Jahren) und ein/e Freiwillige/r, von AFS vom Weltwärts-Programm der Bundesregierung vermittelt.
Die direkte Betreuung der Kinder wird von Montag bis Freitag in jeweils einer Morgen- und einer Nachmittagsschicht (8-11 h, 13-16 h) durchgeführt. Denn öffentliche Schulen – das sind die Schulen der Armen – arbeiten wegen dem Kinderreichtum des Landes grundsätzlich in zwei Tagesschichten von je vier Zeitstunden und evt. noch einer Abendschicht für die Schüler der Sekundarstufe. Die Kinder besuchen den Hort in der ihrer Schulschicht entgegengesetzten Tageshälfte. Einige wenige unserer Hortkinder besuchen Privatschulen, die ebenfalls so organisiert sind (und die Schulgeld verlangen – auf unterschiedlichem Niveau). Jede Familie schickt ihre Kinder zu der Schule, die ihrem Geldbeutel und ihrem sozialen Status am meisten entspricht. Verständlich, dass Paraguays Gesellschaft in verschiedene soziale Klassen aufgespalten ist und dass die jeweils „höheren“ die „niedrigeren“ diskriminieren.
In jeder Schicht wird in Stuhlkreisen der jüngeren und der älteren Kinder erst einmal Kontakt aufgenommen mit denen, die gekommen sind, und die Anwesenheitsliste geführt. In der Morgenschicht wird danach das Frühstück gereicht, anschliessend eine Stunde lang oder länger die Erledigung der Hausaufgaben betreut. Dann können die Kinder ein angebotenes Bastel- oder Handarbeitsprojekt mitmachen oder nach draussen gehen, wo ihnen ein kleiner Fussball- und ein Spielplatz zur Verfügung stehen. Vor dem Abschied von der Morgenschicht gibt es noch einen kleinen Imbiss. In der Nachmittagsschicht werden nach dem Stuhlkreis gleich die Hausaufgaben erledigt, und der Imbiss wird eine halbe Stunde vor dem Schichtende serviert.
Ende des Jahres 2012 wurde den Kindern eine Einführung in den Gebrauch des PC geboten.
Zielsetzungen des Projekts
Der Hort soll ein Ort sein, wo die Kinder und Jugendlichen Zuneigung und Respekt erfahren, wo mehr Lernmöglichkeiten sowohl nichtformaler wie auch formaler Art geboten werden als das in Familie und Schule üblicherweise der Fall ist. Ganz wichtig ist das soziale Lernen, der respektvolle Umgang miteinander, was die Kinder dieser Gesellschaftsschicht in der Regel nicht erleben, weder in der Familie noch in der Schule oder sonst in der Öffentlichkeit. Kameradschaftlichkeit, Aufrichtigkeit, Kreativ- und Effizientsein in allem, was man tut – das sind weitere Werte, die wir in die Tat umzusetzen suchen in der nichtformalen Bildungseinrichtung “Hort im Abasto-Markt”. An erster Stelle versuchen wir das Fehlen emotionaler Wärme im Leben dieser Kinder zu kompensieren. Wir glauben, dass allein aus diesem Grund viele Kinder auf der Strasse landen. Dem wollen wir bei unseren Hortkindern vorbeugen.
Die Zielsetzung entspricht dem Bestreben, den von der UNO 1990 verkündeten Kinderrechte in unserem Umfeld praktische Geltung zu verschaffen – so dass die Kinder dies auch wirklich spüren können. Ausserdem können wir dadurch mithelfen, mehrere der Milleniumsziele zu erreichen:
Extreme Armut und Hunger zu beseitigen
Die Gleichstellung der Geschlechter und speziell Mädchen und Frauen zu fördern
Grundschulbildung für alle zu erreichen
Nachhaltigen Umweltschutz zu betreiben
Weltweite Allianzen für menschliche Entwicklung zu schaffen.
Die Betreuung im Hort soll den Kindern im Rahmen verschiedener Aktivitäten sowohl physische als auch psychosoziale Enwicklungsmöglichkeiten bieten. So werden in Kochprojekten Kenntnisse zu einer gesünderen Ernährung vermittelt, zu Hygiene, zu Produkten und Produktionsmethoden und –bedingungen im Land, wie auch sensorische und feinmotorische Fähigkeiten entwickelt. Auf einem Brachlandstreifen direkt vor unserer Lagerhalle haben wir mit den Kindern Bäume und Sträucher gepflanzt, auch solche, die essbare Früchte bringen, wie z.B. Bananen und Acerolas – die wir bereits beernten können. Wir versuchen, die üblichen strikten Vorstellungen von Geschlechterrollen zu überwinden, indem wir zu Handarbeiten und zum Kochen auch die Jungs einladen, und zu Fussball und technischen Aufgaben auch die Mädchen animieren.
Mit Erfolg. Häufig müssen wir bei der Hausaufgabenbetreuung die Schule kompensieren, die den Kindern nicht genug Erklärungen, Methoden und Mittel mit auf den Weg gibt, damit sie sie auch lösen können. In diesem Zusammenhang dringen wir auf Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit, ganz im Gegensatz zur herrschenden Bevormundung in der Kindererziehung.
Die laufenden Kosten des Projekts[i] werden von ausländischen Organisationen getragen (s.o.), einige Sach- und Lebensmittelspenden kommen von privaten lokalen Spendern und von paraguayischen Firmen. Mittel für Sonderaktivitäten wie die Ausflüge, die wir ca. alle zwei Monate mit den Kindern machen, werden von schwedischen und privaten deutschen Wohltätern geschickt. 2012 haben wir sieben Ausflüge unternehmen können.
Ein Versuch, die Familien mit unserer Arbeit vertraut zu machen und sie selbst bei ihrer Erziehungsarbeit zu stärken, sind Elternversammlungen und der Kurs, den wir wöchentlich anbieten und wo sowohl einfache Handarbeits- und Kunsthandwerktechniken vermittelt werden als auch der Versuch gemacht, die teilnehmenden Mütter für die Entwicklungsbedürfnisse ihrer Kinder zu sensibilisieren. (Väter lassen sich nicht blicken.) Dabei vermitteln wir die einfachen Leitlinien des ICDP-Programms (siehe Briefkopf) für eine gute Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kind; die gleichen Leitlinien gelten für unseren Umgang als Erzieher mit den Hortkindern. Finanziert wird dieser Teil unserer Arbeit von Susila Dharma Soziale Dienste e.V. mit Sitz in Hamburg.
Ein weiterer Weg zu den Familien ist durch Besuche bei ihnen möglich. Jedes Semester haben wir in Zweierteams einen Rundgang durchs Viertel gemacht, die Familien „unserer“ Kinder besucht, auch andere Familien angesprochen und eine Menge über die Lebensumstände der Kinder erfahren. So konnten wir ihnen im Notfall gezielter helfen. Das bezieht sich bei weitem nicht nur auf Schwierigkeiten im akademischen Bereich. Häufig hören wir von Gewalt gegen Frauen und Kinder (nicht oder kaum wird vom umgekehrten Fall – Frau gegen Mann und Kinder – berichtet, den es aber auch gibt), oder von Ausbeutung von Kindern.
Hundertfünfzehn Kinder waren im 2. Semester mit Unterschrift eines Erziehungsberechtigten angemeldet, im 1. waren es noch unter hundert. 80-85% der angemeldeten Kinder und Jugendlichen kommen wirklich zum Hort, wenn auch nicht alle regelmässig jeden Tag. Die allermeisten haben die gesetzlich vorgeschriebenen Personalausweise oder zumindest eine Geburtsurkunde.
Zu unserem politischen und sozialen Kontext
Der paraguayische Staat investiert lateinamerikaweit die niedrigste Prozentrate seines Jahresbudgets in den sozialen Sektor (Gesundheit, Bildung, soziale Dienste). Wenn wir z.B. von Verletzungen der Grundrechte von Kindern hören, können wir – das wissen wir aus eigener Erfahrung – nicht auf Hilfe zählen von der entsprechenden Instanz in der Stadtverwaltung von Asunción. Warum? Das ist für einen Mitteleuropäer in einem geordneten Staatswesen schwer verständlich, hat auf jeden Fall mit der herrschenden Unfähigkeit der Beamten und der Korruption zu tun. Jeder neue Bürgermeister tauscht alte Beamte in führenden Stellungen durch seine Leute aus, die sich erstmal einarbeiten müssen; und ändert nicht selten den politischen Kurs der Massnahmen. Sozialhilfe gibt es nur für einen kleinen Kreis von extrem Armen, und selbst die ist so knapp bemessen und die Erfüllung der damit verknüpften Bedingungen wird so wenig kontrolliert, dass sie nicht effizient ist. Für die Unterstützung privater sozialer Dienste wie dieses Projekt ist im Staatshaushalt kein Posten vorgesehen.
Die neue Regierung (seit Juni 2012, Übergangsregierung bis zur Neuwahl am 21.4.2013) trägt ähnliche Einrichtungen für Kinder, die von der Strasse weggeholt werden sollen, verknüpft mit Sozialhilfe für ihre Familien(s.o.), jedoch keine in der Abasto-Markt-Zone.
Das Programm wird nicht mehr mit der gleichen Energie betrieben wie unter dem Ex-Präsidenten Lugo. – Eine andere NGO (Callescuela) unterhält einen Speisungsservice für Strassen- und arbeitende Marktkinder in unserer Nähe, wo zweimal pro Woche auch Hausaufgaben betreut werden und ein Mütterkreis existiert.
Im Umkreis des Abasto-Marktes existieren drei öffentliche Schulen verschiedener Grösse und Qualität, sowie zwei oder mehr private. Wir bekommen unterschiedliche Reaktionen auf unsere Kontaktversuche mit Direktoren, Jahrgangsstufenleitern und Lehrern: von Indifferenz über negative Bemerkungen über unsere Einrichtung bis hin zu Empfehlungen, Kinder zu uns zu schicken. Die Institution Hort und seine soziale Funktion sind wenig bekannt.
Die Kinder und Jugendlichen jedoch nutzen gern unsere Einrichtung. 2012 sind auffällig viele der 2004 als erste Hortkinder Angemeldeten und später Weggebliebenen (weil sie sich „zu alt“ fühlten für die „escuelita“), zurückgekommen und geblieben. Immer wieder bringen Hortkinder Schulkameraden als Neuzugänge mit. Bei Kindern, die wir seit 2008 betreuen, haben wir schon entscheidende Besserung ihres Verhaltens konstatieren können, was immer einher geht mit besseren Erfolgen in der Schule. Die Zahl der Wiederholer ist 2012 gesunken. Vor allem aber empfinden wir Erzieher im Team, dass wir selber wachsen in der Fähigkeit, ein positives Verhältnis zu den Kindern aufzubauen und zu pflegen.
Fernando de la Mora (Paraguay), 4. April 2013
Elisabeth Gavilán, Leiterin